Nachfolgend werden einige eher allgemein gehaltene Ausführungen zu oft wiederkehrenden Fragen gemacht. Im Einzelfall empfiehlt sich immer eine ausführliche Rechtsberatung.
Der Gesetzgeber hat das sogenannte „Inzest-Tabu“ im Strafgesetzbuch verankert. Dort wird in Paragraf 173 „Beischlaf zwischen Verwandten“ im Strafgesetzbuch (StGB) festgelegt, dass Personen, die zur Tatzeit mindestens 18 Jahre alt waren mit einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder einer Geldstrafe bestraft werden, wenn mit einem leiblichen Verwandten aufsteigender Linie der Beischlaf vollzogen wird. Das bedeutet, dass dieser Paragraph sich nur auf den „Beischlaf“ (und nicht auf andere sexuelle Handlungen) zwischen verwandten Geschwistern bezieht, die 18 Jahre oder älter waren, als die Handlungen einvernehmlich ausgeführt wurden. Für sexualisierte Gewalt im Kindes- und Jugendalter ist dieser Paragraph also nicht relevant.
Die „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ finden sich in den Paragraphen §§ 174 ff. im Strafgesetzbuch (StGB).
Gesetzlich geregelt ist in § 176, dass bestraft wird, wer sexuelle Handlung an einer Person unter 14 Jahren vornimmt oder an sich vornehmen lässt. Das bedeutet, dass der Gesetzgeber Kinder unter 14 Jahren besonders schützt. Selbst wenn ein Kind vermeintlich einverstanden sein sollte, gelten die Handlungen mit einem Kind per se als sexueller Missbrauch. Denn Kinder haben ihre Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung noch nicht entwickelt, sie können aufgrund ihres Entwicklungsstandes noch nicht informiert einwilligen, auch weil sie die Tragweite der Handlungen nicht überblicken können. Alle sexuellen Kontakte mit Kindern unter 14 Jahren sind also gesetzlich verboten. Damit nicht alle sexuellen Handlungen zwischen älteren Kindern und Jugendlichen pauschal kriminalisiert werden, hat der Gesetzgeber in diesem Paragrafen auch geregelt, dass das Gericht von einer Strafe absehen kann, „wenn zwischen Täter und Kind die sexuelle Handlung einvernehmlich erfolgt und der Unterschied sowohl im Alter als auch im Entwicklungsstand oder Reifegrad gering ist, es sei denn, der Täter nutzt die fehlende Fähigkeit des Kindes zur sexuellen Selbstbestimmung aus.“ (StGB § 176 (2)).
Sexualisierte Gewalt durch Geschwister fällt auch unter diesen Straftatbestand, wenn ein Kind unter 14 Jahre alt ist. Für junge Menschen ab 14 Jahren gelten andere gesetzliche Bestimmungen. Hier wird von einer Fähigkeit zur sexuellen Selbstbestimmung ausgegangen und sie dürfen sich sexuell ausprobieren. Daher hängt die Strafbarkeit der Handlung davon ab, ob zwischen ihnen und der anderem Person ein Obhutsverhältnis besteht oder ob die Jugendlichen wirklich freiwillig und selbstbestimmt gehandelt haben.
Auch § 177 StGB „Sexueller Übergriff; sexuelle Nötigung; Vergewaltigung“ kann im Kontext sexualisierter Gewalt durch Geschwister relevant sein. Der Paragraph besagt u.a., „Wer gegen den erkennbaren Willen einer anderen Person sexuelle Handlungen an dieser Person vornimmt oder von ihr vornehmen lässt oder diese Person zur Vornahme oder Duldung sexueller Handlungen an oder von einem Dritten bestimmt, wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“
Darüber hinaus können weitere Straftatbestände infrage kommen, wie z.B. der Besitz und die Verbreitung von Missbrauchsdarstellungen (juristisch „Kinderpornografie“ genannt, siehe § 184b StGB).
Zu beachten ist allerdings, dass die Strafmündigkeit in Deutschland erst ab Vollendung des 14. Lebensjahres beginnt. Jungen Menschen wird erst ab dem Alter von 14 Jahren die Reife zugesprochen, für ihre Handlungen strafrechtlich verantwortlich gemacht werden zu können. Das bedeutet, dass Kinder unter 14 Jahren für die von ihnen begangenen Straftaten strafrechtlich nicht belangt werden können. In vielen Fällen sexualisierter Gewalt durch Geschwister geht die sexualisierte Gewalt von Geschwistern aus, die jünger als 14 Jahre alt sind. Wenn beispielsweise ein 13-jähriger Bruder seine sechsjährige Schwester über mehrere Jahre vergewaltigt hat, kann er für die Handlungen nicht strafrechtlich verantwortlich gemacht werden. Einige Betroffene erleben das als äußerst ungerecht, weil ihnen eine strafrechtliche Konsequenz wichtig wäre. Für andere kommt eine strafrechtliche Verfolgung grundsätzlich nicht infrage, etwa weil sie keine Familienmitglieder anzeigen würden, weil sie die auch liebevolle Beziehung zum Geschwister oder die Beziehung zu den Eltern nicht belasten möchten, weil sie die Motive für die sexualisiert-übergriffigen Handlungen nachvollziehen können oder auch weil sie zu große eigene Belastungen durch einen Strafprozess fürchten.
Sexualstraftaten wie zum Beispiel sexueller Missbrauch oder Vergewaltigung müssen nicht sofort strafrechtlich verfolgt werden. Sogenannte „Verjährungsfristen“ regeln, wie lange eine Sexualstraftat im Nachhinein noch strafrechtlich verfolgt werden kann, bis dieses Recht erlischt (§ 78 StGB). In vielen Fällen brauchen Betroffene Zeit, um sich aus emotionalen Abhängigkeiten zu befreien oder aber um das Geschehene so zu verarbeiten, dass sie überhaupt genügend Kraft haben, um diesen oft schwierigen Weg zu gehen.
In zahlreichen Ländern gibt es für bestimmte Personengruppen (z.B. für bestimmte Berufsgruppen) oder sogar für alle Erwachsenen eine gesetzliche Verpflichtung, Gewalttaten, die gegen Minderjährige begangen wurden, bei Behörden zu melden. In Deutschland ist das nicht so. Bei uns müssen Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung nicht bei der Polizei oder einer anderen Behörde angezeigt werden. Eltern, betroffene Geschwister oder Lehrer:innen müssen sich also nicht an die Polizei wenden. Dieses Thema wird oft diskutiert. An einer Anzeigepflicht, wie in anderen Ländern üblich, wird kritisiert, dass Betroffene dann keine vertrauliche Beratung mehr in Anspruch nehmen könnten, wenn Mitarbeiter:innen von Einrichtungen (z.B. Beratungsstellen) oder alle Bürger:innen gesetzlich verpflichtet wären, die Polizei einzuschalten. Dies könnte es für Betroffene noch schwieriger machen, Hilfe zu suchen, und eine Offenlegung erschweren, da viele (zunächst oder dauerhaft) keinen Einbezug der Strafverfolgungsbehörden wünschen. Viele Geschwister, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, wünschen sich, dass die sexualisierte Gewalt beendet wird. Sie wünschen sich aber keine strafrechtliche Verfolgung ihrer Geschwister. Eine Anzeigepflicht würde somit dem Opferschutz widersprechen, da Betroffene erneut ein Gefühl der Ohnmacht erleben würden, wenn die Strafverfolgungsbehörden gegen ihren Willen informiert werden müssten. Es muss also im Einzelfall, gemeinsam mit den Betroffenen, genau überlegt werden, inwiefern eine strafrechtliche Verfolgung im Einzelfall überhaupt sinnvoll erscheint.
Für Fachkräfte der Kinder- und Jugendhilfe (u.a. Mitarbeiter:innen in Jugendämtern, sowie in Kitas, Jugendzentren, der Schulsozialarbeit, Wohngruppen) gelten allerdings bestimmte Verfahrensschritte, die als „Schutzauftrag bei einer Kindeswohlgefährdung“ gesetzlich festgeschrieben sind (§ 8a SGB VIII). Sie dürfen nicht einfach weggucken, wenn sie gewichtige Anhaltspunkte für eine Kindeswohlgefährdung wahrnehmen. Sexualisierte Gewalt durch Geschwister ist eine Form einer Kindeswohlgefährdung und daher sind Fachkräfte im Handlungsfeld der „Kinder- und Jugendhilfe“ verpflichtet, wenn möglich in Absprache mit den Kindern/Jugendlichen und Eltern, Hilfe anzubieten und notwendige Maßnahmen einzuleiten, um die Gefährdung abzuwenden und das Kind zu schützen. Es ist also sehr wohl geregelt, dass Maßnahmen eingeleitet werden müssen, um das Kindeswohl zu gewährleisten. Auch für Berufsgeheimnisträger:innen wie z.B. Lehrer:innen oder Psycholog:innen hat der Gesetzgeber bestimmte Verfahrensgrundsätze festgeschrieben. Diese finden sich im „Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG)“ im § 4. Aber auch für diese Berufsgruppen gibt es keine Anzeigepflicht bei Strafverfolgungsbehörden. Vielmehr wird im Rahmen der Jugendhilfe ein Verfahren geregelt, um Hilfe anzubieten und die Gefährdung abzuwenden.
Sexualisierte Gewalt durch Geschwister wird den Strafverfolgungsbehörden nur selten gemeldet, auch weil Eltern selten anzeigen, da sie zugleich auch die Eltern des sexualisiert-übergriffigen Kindes/Jugendlichen sind.
Bei der Einschaltung einer Strafverfolgungsbehörde (Polizei, Staatsanwaltschaften u.a.) ist zu beachten, dass diese Behörde gemäß dem sogenannten Legalitätsprinzip eine Verpflichtung zur strafrechtlichen Verfolgung hat, sobald sie Kenntnis von einer möglichen Straftat erlangt (gemäß §163 StPO). Das bedeutet, dass Ermittlungen eingeleitet werden, unabhängig davon, ob die betroffene Person dem zustimmt oder nicht (Ermittlungszwang). Wurde also einmal eine Anzeige gemacht, beginnen die Ermittlungen.
Die damit verbundenen Konsequenzen und Belastungen für Betroffene sind oft schwer abzuschätzen, können jedoch erheblich sein: wiederholte Befragungen zu schambesetzten Themen, die Mitwirkung in psychiatrischen Glaubhaftigkeitsbegutachtungen, oder auch die Konsequenzen, wenn es zur Einstellung des Verfahrens oder einem Freispruch als Verfahrensausgang kommt. In Deutschland ist es so, dass nur wenige Fälle sexualisierter Gewalt überhaupt zur Anzeige gebracht werden und ein Großteil der angezeigten Fälle nicht mit einer Verurteilung endet. Oft steht Aussage gegen Aussage, fehlen Zeug:innen und Beweismittel und Anzeigen enden „im Zweifel für den Angeklagten“ mit einem Freispruch. Des Weiteren ist mit einer langen Verfahrensdauer zu rechnen. Im Strafprozess kann es auch so sein, dass die „Beeinflussung durch Therapeut:innen“ als nachteilig in Bezug auf die Glaubhaftigkeit von Opferzeug:innen verstanden wird. Daher kann es ratsam sein, eine therapeutische Behandlung erst im Anschluss an die Vernehmungen durch die Polizei zu beginnen.
Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, in jedem Einzelfall sorgfältig abzuwägen, ob die Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden sinnvoll erscheint. Es ist auch kritisch anzumerken, dass Kinder und Jugendliche oft nicht selbst darüber entscheiden dürfen, ob eine Strafanzeige erstattet wird. Oftmals entscheiden Erwachsene darüber, auch gegen den ausdrücklichen Wunsch der Betroffenen. Dieses Vorgehen ist problematisch, da die Betroffenen erneut ein Gefühl der Ohnmacht erfahren und auch weil sich Zwang negativ auf die Bereitschaft auswirken könnte, aktiv als sogenannte/r „Opferzeug:in“ am Verfahren mitzuwirken und eine Aussage zu machen, die der Wahrheitsfindung dient.
Abschließend sei in Bezug auf einen Strafprozess darauf verwiesen, dass Kinder, Jugendliche und auch Erwachsene, die Opfer von Gewalt- und Sexualverbrechen wurden, einen Rechtsanspruch auf eine „Psychosoziale Prozessbegleitung“ im Strafverfahren haben.
Wenn sich sexualisiert-übergriffige junge Menschen, selbst anzeigen, sei es aufgrund des eigenen Wunsches Verantwortung für die Handlungen zu übernehmen oder auch häufig infolge äußeren Drucks, dann ist zu beachten, dass die Einleitung eines Strafverfahrens immer auch zu den skizzierten Konsequenzen für die Betroffenen, die „Opferzeug:innen“, führt. Daher sollte im Hilfeprozess gut abgesprochen werden, welche Auswirkungen zu erwarten sind und ob ein solches Vorgehen, auch mit Blick auf die Betroffenen sexualisierter Gewalt, sinnvoll erscheint.