„Du bist nicht schwach, Du warst nur sehr lange sehr stark!“
Als unmittelbare Reaktion auf die Erfahrungen sexualisierter Gewalt zeigen viele Kinder Verhaltensveränderungen, die aber auch immer auf andere Ursachen zurückführbar sein können. Dazu zählen u.a.: eine sexualisierte Sprache oder sexualisierte Verhaltensweisen (anderen die eigenen Geschlechtsteile zeigen), Überschreiten persönlicher Grenzen (bei Fremden auf den Schoß setzen), Rückzugsverhalten, Ängste, unruhiger Schlaf, Alpträume, Konzentrationsprobleme, Aggressivität. All das können Warnsignale sein, die Eltern und Fachkräfte hinterfragen sollten.
Sexualisierte Gewalt durch Geschwister kann langfristig zu schwerwiegenden Folgen führen. Wenn die sexualisierte Gewalt andauert, nicht offengelegt wird und keine professionelle Hilfe erfolgt, zeigen sich Folgen häufig bis weit ins Erwachsenenalter. Einige Betroffene leiden ihr Leben lang. Da viele Fälle nicht offengelegt werden, kann es Jahre dauern, bis die Belastungen und Auffälligkeiten, die sich zum Beispiel in Form von Symptomen einer Posttraumatischen Belastungsstörung oder einer Depression bemerkbar machen, auf die Erfahrungen sexualisierter Gewalt zurückgeführt werden können. Immer wieder melden sich betroffene Frauen und Männer, die erst nach vielen Jahren Therapie, einen möglichen Zusammenhang psychischer Auffälligkeiten/Störungen mit Erfahrungen sexualisiert-übergriffiger Handlungen durch Geschwister erkennen.
In welchem Ausmaß die sexualisierte Gewalt das weitere Leben beeinflusst hängt von unterschiedlichen Faktoren ab wie: Alter/Entwicklungsstand zu Beginn der Handlungen (je jünger desto schwerwiegender), Dauer der Handlungen (je länger desto schwerwiegender), Schweregrad (je intensiver desto schwerwiegender), Reaktion des Umfeldes nach der Offenlegung (je weniger (emotionale) Unterstützung desto schwerwiegender) und auch von der Frage, ob professionell interveniert wurde und die Betroffenen therapeutisch begleitet wurden. In Bezug auf den Schwergrad ist zu ergänzen, dass Studien zeigen, dass Betroffene sehr intensiver sexualisierter Gewalt, prinzipiell stärker unter den Folgen leiden. Zugleich ist aber auch zu betonen, dass es immer von der persönlichen Empfindungen und den individuellen Verarbeitungsmöglichkeiten abhängt. Es zeigt sich, dass viele Betroffene, die weniger intensive Formen sexualisierter Gewalt erfahren (z.B. hands-off Übergriffe), auch langfristig unter starken Belastungen leiden können und die Handlungen genauso schädlich sind wie sehr intensive Ausdrucksformen.
In den vergangen Jahrzehnten wurde auch dem Thema „Resilienz“ zunehmend Aufmerksamkeit geschenkt. Der Begriff „Resilienz“ steht für die Widerstandsfähigkeit einer Person, mit belastenden Lebensereignissen umzugehen. Es gibt Menschen, die dank ihrer großen Widerstandskraft keine oder nur geringe Langzeitfolgen nach erfahrener sexualisierter Gewalt zeigen und die sich nach einer gewissen Zeit schnell wieder aufrichten, ihr Leben in die Hand nehmen und es aktiv gestalten, während andere an belastenden Lebensereignissen zerbrechen.
Auch die individuellen Fähigkeiten der Stressbewältigung, die „Wahl“ der Bewältigungsmuster (sogenannte Coping-Strategien) junger Menschen unterscheiden sich. Ein destruktives Bewältigungsmuster wäre, sich in Alkohol und Drogen zu flüchten, um die Gefühle der Ohnmacht und Hilflosigkeit zu verdrängen oder zwanghaft sexuelle Aktivitäten mit wechselnden Partner:innen auszuführen, um zu versuchen, eigene Ohnmachtsgefühle zu überwinden und die Kontrolle über diese Aktivitäten zurückzugewinnen. Im Rahmen eines konstruktiven Copings wird beispielsweise viel Sport ausgeübt, werden viele soziale Kontakte und vertrauensvolle Beziehungen aufgebaut, wird sich über das Thema „sexualisierte Gewalt“ informiert, wird versucht Gespräche darüber zu führen, Hilfe zu finden.
Es sind die unverarbeiteten Lebensereignisse, die nicht-integrierten Traumata, die Menschen auf Dauer krank machen. Das Wissen über Traumata ist in den letzten Jahrzehnten stark angewachsen. Ein Trauma ist ein Zustand von extremer Angst und Hilflosigkeit, der die Verarbeitungsmöglichkeiten der Person überfordert. Das Gehirn wird mit Stresshormonen überflutet. Die Person fühlt sich ohnmächtig, hilflos und ausgeliefert. Mittlerweile konnte durch die Forschung gezeigt werden, dass traumatische Erfahrungen die Struktur und die Funktion des Gehirns verändern. Insbesondere Funktionen, die für die Verarbeitung von Emotionen, das Gedächtnis und die Stressregulation zuständig sind werden durch Traumata verändert. Besonders Traumata, die in jungen Lebensjahren erfahren werden, führen im weiteren Leben oft zu massiven Folgen. Betroffene, die unter typischen Symptomen wie Alpträumen; Flashbacks; intrusiven (sich aufdrängenden) Gedanken, starken emotionalen oder körperlichen Reaktionen auf bestimmte Dinge, die an das Trauma erinnern; ständiger Anspannung und Reizbarkeit; übermäßiger Wachsamkeit; Dissoziationen, Schwierigkeiten beim Ein- oder Durchschlafen, Schwierigkeiten bei der Konzentration und/oder Erinnerungslücken leiden, sind vermutlich traumatisiert und sollten gezielte traumatherapeutische Angebote nutzen, um die belastenden Erfahrungen zu integrieren und damit leben zu lernen.
Sexualisierte Gewalt durch Geschwister hat oft erhebliche Auswirkungen auf die sexuelle, emotionale, interpersonelle, neurologische und intellektuelle Entwicklung. 48 Die Folgen sind nicht geringer als die Folgen sexualisierter Gewalt durch Erwachsene.
Zu den kurzfristigen Folgen zählen: Schwangerschaft, sexuell übertragbare Krankheiten, körperliche Verletzungen, Symptome einer posttraumatischen Belastungsstörung, emotionale Probleme und Verhaltensauffälligkeiten. Erfahrungen sexualisierter Gewalt durch gleichgeschlechtliche Geschwister führt häufig zu großen Unsicherheiten und Irritationen in Bezug auf die eigene sexuelle Orientierung. Betroffene Mädchen, die durch Schwestern sexualisierte Gewalt erfahren haben befürchten ebenso wie Jungen, die sexualisierte Gewalt durch Brüder erfahren haben, homosexuell zu sein.
Im Erwachsenenalter ist die häufigste Langzeitfolge die Depression, die sich durch anhaltende und schwerwiegende Gefühle der Traurigkeit, Hoffnungslosigkeit, Niedergeschlagenheit und einen Interessenverlust kennzeichnet. Studien zeigen auch, dass viele erwachsene Betroffene unter einem geringen Selbstwertgefühl sowie Angstzuständen leiden und durch die sexualisierte Gewalt traumatisiert sind. Posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) sind daher sehr weit verbreitet (mit typischen Symptomen wie Alpträumen; Flashbacks; intrusive (sich aufdrängende) Gedanken, starken emotionalen oder körperlichen Reaktionen auf bestimmte Dinge, die an das Trauma erinnern; ständiger Anspannung und Reizbarkeit; übermäßiger Wachsamkeit; Dissoziationen, Schwierigkeiten beim Ein- oder Durchschlafen, Schwierigkeiten bei der Konzentration und/oder Erinnerungslücken).
Schuld- und Schamgefühle belasten viele Betroffene über einen langen Zeitraum. Die Gedanken kreisen immer wieder um die Fragen: Warum habe ich meiner Mutter/meinem Vater nichts erzählt? Warum habe ich in der Schule nichts erzählt? Warum habe ich mich nicht stärker zur Wehr gesetzt? Warum habe ich mich darauf eingelassen? Zu bedenken ist im Kontext von Schuldgefühlen folgendes: Auch sexualisierte Gewalt kann zu körperlichen Reaktionen in Form einer Erregung führen (die bei Jungen noch deutlicher sichtbar ist als bei Mädchen) und Betroffene berichten zum Teil auch von Lustempfindungen als Reaktion auf sexuelle Verhaltensweisen. Diese Gefühle verstärken die Schuld- und Schamgefühle Betroffener erheblich.
Auffälligkeiten im Sexualverhalten zählen ebenfalls zu den Langzeitfolgen. Während einige Betroffene sexuelle Kontakte aufgrund von Scham- und Schuldgefühlen, Schmerzen oder sexuellen Funktionsstörungen komplett meiden, suchen andere viele verschiedene Sexualpartner:innen, ohne eine feste, auf Vertrauen basierende Beziehung eingehen zu können. Dieses Vorgehen wird als „Hypersexualität“ bezeichnet, eine Art, mit der Vergangenheit umzugehen, indem versucht wird, die Kontrolle zurückzugewinnen. Sexuelle Kontakte werden immer wieder gesucht, um diese nun selbst kontrollieren zu können und der anhaltenden Ohnmacht aus der Kindheit zu entfliehen. Die Bedeutung sexueller Intimität wird abgewertet, indem sexuelles Verhalten beiläufig ausgeübt wird und versucht wird, der sexuellen Erfahrung jegliche emotionale Bedeutung zu nehmen. 49
Häufig berichten Betroffene im Erwachsenenalter davon, generell Probleme zu haben, vertrauensvolle Beziehungen zu anderen Menschen einzugehen. Viele haben ein tief-verwurzeltes Misstrauen gegenüber anderen Menschen. Oft führt sexualisierte Gewalt durch Geschwister dazu, dass Betroffene sich im Erwachsenenalter von ihren Familienmitgliedern distanzieren.
Erfahrungen sexualisierter Gewalt erhöhen das Risiko, im Erwachsenenalter erneut traumatischen Erfahrungen (sexualisierter oder aber auch körperlicher) Gewalt ausgesetzt zu sein – oft werden Beziehungen mit gewalttätigen Partner:innen geführt. Zu erklären ist dieses Muster u.a. durch ein verinnerlichtes Bild der eigenen Wertlosigkeit, einer reduzierten Selbstfürsorge oder einen Widerholungszwang, um Kontrolle zurückzugewinnen.
Weitere Langzeitfolgen sind: Drogen- und Alkoholprobleme (Suchterkrankungen), Essstörungen, Suizidgedanken, Suizidversuche und ausgeführter Suizid.
Abschließend sei darauf verwiesen, dass bei sexualisierter Gewalt durch Geschwister ein sehr großer innerfamiliärer Druck auf den Betroffenen lastet. Häufig möchten alle Familienmitglieder wieder schnell als „heile Familie“ zusammenleben. Daher ist es auch nach einer Offenlegung oft so, dass sowohl die Eltern als auch das sexualisiert-übergriffige Geschwister auf das Signal der Betroffenen warten, dass doch nun „alles wieder gut“ sei. Infolge dieses Drucks minimalisieren einige Betroffene die negativen Auswirkungen und erklären sich vorschnell als geheilt. Diese Dynamik kann bis weit ins Erwachsenenalter anhalten. So berichteten mir betroffene Frauen, die selbst mittlerweile 60 Jahre alt oder älter waren und viele Jahre aufgrund der starken Belastungen durch die erfahrene sexualisierte Gewalt psychotherapeutisch bzw. psychiatrisch begleitet werden mussten, von dem fortwährenden Wunsch ihrer Mütter, doch jetzt endlich mal mit diesem leidigen Thema aufzuhören, weil doch alles schon so lange her sei.
Betroffene brauchen vor allem Zeit, um die Erfahrungen verarbeiten zu können und sie brauchen in vielen Fällen auch professionelle Hilfe. Einigen helfen Beratungsangebote in spezialisierten Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt, andere brauchen eine Therapie. Es gibt verschiedene Therapieansätze, die darauf ausgerichtet sind, Betroffenen sexualisierter Gewalt zu helfen und ihre psychische Gesundheit zu verbessern. Zu bedenken ist, dass der Heilungsweg oft mühsam ist und es immer auch Rückschritte geben kann.
Zitat einer betroffenen, heute erwachsenen, Frau:
„Ich hatte viele depressive Phasen im letzten halben Jahr und habe irgendwann nur noch Trauer und Wut in mir gespürt, die ich nicht mehr kontrollieren konnte. Auch meine Mutter hat wieder mal einiges dazu beigetragen, dass ich wieder ganz unten war/bin. Was mir wiederum zu verstehen gegeben hat, dass ich Abstand nehmen muss und nicht für ihr Leben zuständig bin.
Besonders die letzten Wochen waren hart für mich, ich hätte nur noch weinen können, habe an meinem Selbst gezweifelt, wurde von meinen aufgestauten Gefühlen überrumpelt und hatte das Gefühl die letzte Hoffnung verloren zu haben.
Die Therapeutin hat bei mir eine mittelschwere Depression und PTBS diagnostiziert, was ich auch geahnt habe, jetzt steht es auf dem Papier. Irgendwann konnte ich die Gefühle nicht mehr verdrängen und habe es geschafft, loszulassen: einfach die Tränen laufen zu lassen und zu schreien: mal morgens, mal abends, mal nachts: es will nicht aufhören. Ich habe das Gefühl, dass die Gefühle meiner letzten 38 Jahre jetzt raus möchten, seit meiner Geburt an! Wie viel Einsamkeit, Wut und Enttäuschung in mir ist. In den letzten Tagen hab ich das Bedürfnis gehabt, meine Gefühle, meine Gedanken, mein Zustand nicht mehr verstecken zu wollen. Mich und mein Umfeld nicht mehr belügen zu wollen, denn damit hab ich auch mich belogen, das, was ja die letzten Jahre von mir erwartet wurde. „Sei stark, vergiss alles, heule nicht usw.“ Jetzt ist Schluss damit, das bin ich meinem inneren Kind schuldig.
Mir ist bewusst geworden wie viele Menschen ich um mich herum habe, die mir Gutes wollen. Wie viele wundervolle Menschen ich kennen lernen durfte, die mich in irgendeiner Weise nach vorne geschoben haben, auch SIE, dafür bin ich sehr dankbar. Jetzt liegt es an mir, all das anzunehmen, es anzugehen und weiter dran zu arbeiten. Dieses Mal allerdings nicht mehr allein, sondern mit all den Menschen, die mir guttun.“
48 Watts, B. (2020). Sibling sexual abuse. A guide for confronting America`s silent epidemic. Independently published.
49 Watts, B. (2020). Sibling sexual abuse. A guide for confronting America`s silent epidemic. Independently published. S. 57