Obwohl die Fälle sexualisierter Gewalt durch Geschwister so stark tabuisiert werden und nur selten an Behörden gemeldet werden, sind sie längst in der Praxis psychosozialer Berufe allgegenwärtig. Die Nachfrage nach Fortbildungen zu dem Thema ist in den letzten Jahren spürbar gestiegen. Sozialarbeiter:innen und Sozialpädagog:innen aus Jugendämtern, aus Einrichtungen der Erziehungshilfen (z.B. ambulante Angebote oder stationäre Wohngruppen) oder aber aus spezialisierten Angeboten für sexualisiert-übergriffige Kinder und Jugendliche, berichten von oftmals sehr komplexen Fällen aus der Praxis und häufig auch von eigener Hilflosigkeit und Überforderung. Es melden sich aber auch Familienrichter:innen oder niedergelassene Psycholog:innen, die im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit mit diesem Thema in Berührung kommen. In der psychosozialen Handlungspraxis ist das Thema längst angekommen und das obwohl davon auszugehen ist, dass die meisten Fälle nicht offengelegt werden, nicht den Behörden (sei es Strafverfolgungsbehörden oder Jugendämtern) gemeldet werden, sondern weiterhin im Dunkelfeld verbleiben.
Bis heute gibt es in Deutschland keine verlässlichen Zahlen, die das Ausmaß sexualisierter Gewalt durch Geschwister erfassen. In (repräsentativen) Studien, die sich allgemein mit dem Thema „sexualisierte Gewalt“ befassen, werden diese Fälle teilweise nicht erfasst, weil ein Mindestaltersunterschied zwischen „Opfer“ und „Täter:in“ von mindestens fünf Jahren per Definition festgelegt wird, bevor von sexualisierter Gewalt gesprochen wird. Das ist problematisch, wenn man sexualisierte Gewalt durch Kinder/Jugendliche an Kindern/Jugendlichen erfassen möchte, weil dann viele Fälle unberücksichtigt bleiben. Es gibt Brüder, die nur zwei Jahre älter sind als die betroffenen Geschwister – es gibt auch jüngere Schwestern, die sexualisiert-übergriffige Handlungen an älteren Brüdern ausführen. Diese Realität darf nicht aus dem Blick geraten.
Verfügbare Zahlen zur Häufigkeit zeigen immer nur die Spitze des Eisberges. Aus Studienergebnissen wissen wir, dass die Mehrheit der Betroffenen sexualisierter Gewalt durch Geschwister ihre Erfahrungen nicht offenlegt und Betroffene von sexualisierter Gewalt durch Geschwister die Handlungen noch seltener offenlegen als kindliche Opfer erwachsener Täter:innen.
Wir sehen daher immer nur die Spitze des Eisberges.
Brad Watts, der in den USA therapeutisch mit betroffenen Familien arbeitet, spricht bei sexualisierter Gewalt durch Geschwister treffend von einer „stillen Epidemie“. 26
In Deutschland wurden vor einigen Jahren Zahlen in Bezug auf das Versorgungssystem zusammengetragen, und zwar ganz konkret in Bezug auf spezialisierte Einrichtungen für sexualisiert-übergriffige Kinder und Jugendliche (etwa 90 Angebote in Deutschland):
Etwa die Hälfte der Kinder und Jugendlichen, die in spezialisierten (ambulanten/stationären) Einrichtungen für sexualisiert-übergriffige Kinder und Jugendliche betreut wurden, hatte (auch) sexualisiert-übergriffige Handlungen an Geschwistern ausgeführt. 27
Diese Befunde decken sich auch mit internationalen Ergebnissen, nach denen bis zu 50% der sexualisierten Gewalt, die durch Kinder und Jugendliche ausgeübt wird, innerhalb der Familie durch Geschwister ausgeübt wird.
Führende Wissenschaftler:innen im Themenfeld bezeichnen sexualisierte Gewalt durch Geschwister als die häufigste Form innerfamiliärer sexualisierter Gewalt, die drei- bis fünfmal häufiger vorkommt als sexualisierte Gewalt, die durch ein Elternteil ausgeübt wird. 28 Brad Watts 29 verweist beispielsweise auf einen Bericht der staatlichen Gesundheitsbehörde, demzufolge 2,3 % der Kinder durch Geschwister und nur 0,12 % durch ein erwachsenes Familienmitglied sexualisierte Gewalt erfahren haben.
Einige größere Studien haben offengelegt, dass bis zu 15 % der Kinder sexuelle Handlungen mit Geschwistern ausüben und etwa 5 % sexualisierte Gewalt durch Geschwister erfahren. 30 In einer portugiesischen Studie mit 590 Studierenden hat sich gezeigt, dass 11% der männlichen und 5% der weiblichen Studierenden berichteten, selbst Geschwister in der Kindheit sexuell genötigt zu haben. 31
Aufgrund der mangelnden Forschung, unterschiedlicher Definitionen, und auch der geringen Offenlegungsquote ist es bis dato nicht möglich, valide Angaben zur Häufigkeit (Prävalenz) zu machen. Es gibt sowohl national als auch international einen großen Mangel an hochwertigen Studien mit repräsentativen Stichproben zu dieser Thematik.
26 Watts, B. (2020). Sibling sexual abuse. A guide for confronting America`s silent epidemic. Independently published.
27 König, A., Kettritz, T., Waschlewski, S. (2016). Diskussionsentwurf: Bundesweite Erhebung zur ambulanten
28 King.Hill, S., McCartan, K., Gilsenan, A., Adams, A. & Beavis, J. (2023). Understanding and Responding to Sibling Sexual Abuse (Series: Palgrave Studies in Risk, Crime and Society). Palgrave Macmillan. S. 20.
29 Watts, B. (2020). Sibling sexual abuse. A guide for confronting America`s silent epidemic. Independently published. S. 2
30 Yates, P. & Allardyce, S. (2021). Sibling sexual abuse: A knowledge and practice overview. Centre of expertise on child sexual abuse. https://www.csacentre.org.uk/app/uploads/2023/09/Sibling-sexual-abuse-report.pdf
31 Relva, I., Fernandes, O. and Alarcão, M. (2017) Dyadic types of sibling sexual coercion. Journal of Family Violence, 32(6):577–583. https://doi.org/10.1007/s10896-017-9918-3