Der Begriff „Geschwister“ erfasst neben leiblichen (Halb-) Geschwistern ebenso Adoptiv-, Stief- und Pflegegeschwister. Einige Wissenschaftler:innen und Praktiker:innen beziehen darüber hinaus auch Cousins und Cousinen als „Geschwister“ mit ein1 – ich sehe davon ab, um die Definition nicht ausufern zu lassen. Unterschiedliche Definitionen können zu Missverständnissen führen. Daher ist es wichtig, Definitionen in Forschungsarbeiten zu vergleichen.
Sexualisierte Gewalt durch Geschwister geschieht in allen „Konstellationen“. Es gibt Brüder, die das sexualisiert-übergriffige Verhalten gegenüber Schwestern zeigen; Brüder, die das sexualisiert-übergriffige Verhalten gegen Brüder richten und Schwestern, bei denen sich die sexualisierte Gewalt gegen Schwestern oder Brüder richtet. Insbesondere über Mädchen, die sexualisierte Gewalt ausüben, liegen nur sehr wenig Forschungsergebnisse vor.
In der überwiegenden Mehrheit der Fälle sind es Jungen, die sexualisierte Gewalt an ihren Schwestern ausüben. Das bestätigen zahlreiche Studien. Allgemein ist es so, dass sexualisierte Gewalt viel häufiger durch Jungen und Männer ausgeübt wird als durch Mädchen und Frauen. Zu bedenken ist allerdings auch, dass Mädchen und Frauen leichter unentdeckt bleiben können, weil ihnen aufgrund von geschlechtsbezogenen Vorurteilen (sogenannten „Geschlechterstereotypen“) ein solches Verhalten nicht zugetraut wird. Es wird geschätzt, dass weibliche Kinder, Jugendliche und Frauen für etwa 10-25 % sexualisierter Gewalt verantwortlich sind.
Von sexualisierter Gewalt durch Geschwister betroffen, sind häufiger Mädchen als Jungen. Zu bedenken ist aber auch, dass viele betroffene Jungen und Männer aufgrund des gesellschaftlich gefestigten Rollenbildes „vom starken Mann“ davor zurückschrecken, ihre Erfahrungen als Betroffene sexualisierter Gewalt offenzulegen. Zu groß ist die Sorge, nicht ernst genommen und verspottet zu werden oder als schwaches und hilfloses Opfer zu gelten. Andere betroffene Männer suchen aber auch Hilfe. Es gibt bis heute jedoch nur an wenigen Standorten in Deutschland Beratungsangebote für männliche Betroffene sexualisierter Gewalt. Es ist eher unwahrscheinlich, dass betroffene Männer den Mut fassen, sich an eine spezialisierte Fachberatungsstelle gegen sexualisierte Gewalt für Mädchen und Frauen zu wenden – ganz abgesehen davon, dass diese meistens grundsätzlich keine Männer beraten, weil sie einen Schutzraum für Mädchen und Frauen bereitstellen. Immer wieder melden sich Männer bei mir, die in ihrer Kindheit sexualisierte Gewalt durch Brüder oder auch durch Schwestern erlebt haben, auf der verzweifelten Suche nach Hilfeangeboten und den Austausch mit anderen Betroffenen.
Ein Junge im Alter von fünf Jahren baut mit seiner älteren Schwester (elf Jahre) und seinem jüngeren Bruder (zwei Jahre) ein Zelt im Bett. Die Schwester beginnt im Zelt damit, ihren fünfjährigen Bruder am Penis zu streicheln. In den nachfolgenden Wochen fordert sie ihren Bruder immer wieder zum gemeinsamen „Spiel“ auf. Mit zunehmenden Alter steigt die Intensität der sexuellen Handlungen, bis zum Geschlechtsverkehr.
Grundsätzlich kann man zur Auswahl der Geschwister, die geschädigt werden, herausstellen, dass die „Verfügbarkeit“ der Geschwister mitentscheidend ist und auch Widerstandsbereitschaft/Gegenwehr eine Rolle spielen – nicht allein die Präferenz eines bestimmten Geschlechtes. Also Brüder, die gegenüber Brüdern sexuell übergriffig sind, haben keine homosexuellen Interessen, sondern sie wählen einen Bruder, weil sie beispielsweise auf ihn aufpassen sollen, häufig mit ihm alleine sind oder aber weil aufgrund des jungen Alters oder einer Behinderung nur ein geringes Risiko besteht, dass die Handlungen aufgedeckt/offengelegt werden. Es werden eher die Geschwister ausgewählt, bei denen ein geringes Offenlegungsrisiko besteht. Nicht unüblich ist, dass auch mehrere Geschwister unterschiedlichen Geschlechts innerhalb einer Familie betroffen sind.
Einige junge Menschen weiten das sexualisiert-übergriffige Verhalten auch außerfamiliär aus. Das bedeutet also im Umkehrschluss, dass es auch sinnvoll ist, beim Bekanntwerden von sexualisierten Übergriffen an Kindern/Jugendlichen außerhalb der Familie, auch zu prüfen, ob möglicherweise auch Geschwisterkinder betroffen sein könnten.
Neben der Bezeichnung „sexualisierte Gewalt durch Geschwister“ wurde in den letzten Jahrzehnten in der internationalen Forschungsliteratur insbesondere der Begriff „Geschwisterinzest“ (im Englischen: sibling incest) verwendet. Daher hatte auch ich diese Bezeichnung in meiner Doktorarbeit (2008) gewählt. An dem Begriff wird kritisiert, dass er etwas Verharmlosendes, Geheimnisvolles impliziert und nicht klar die ausbeuterische Struktur benennt. Daher gilt diese Bezeichnung mittlerweile eher als veraltet und wird kaum im Fachdiskurs verwendet. Stattdessen wird die Bezeichnung „Sexualisierter Gewalt durch Geschwister“ bevorzugt. Ich vermeide die Bezeichnungen „sexualisierte Gewalt zwischen Geschwistern“ oder „unter Geschwistern“, weil diese Formulierungen eine Beteiligung beider Geschwister und ein beidseitiges Einverständnis suggerieren.
Die Bezeichnung „sexueller Missbrauch“ wird häufig verwendet und entspricht auch der juristischen Bezeichnung im Strafgesetzbuch.
In psychosozialen Arbeitsfeldern wird oft folgende Definition herangezogen:
„Sexueller Missbrauch an Kindern ist jede sexuelle Handlung, die an oder vor einem Kind entweder gegen den Willen vorgenommen wird oder der das Kind aufgrund körperlicher, psychischer, kognitiver oder sprachlicher Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen kann. Der Täter nutzt seine Macht- und Autoritätsposition aus, um seine eigenen Bedürfnisse auf Kosten des Kindes zu befriedigen“.2
Heute würde man nicht nur vom „Täter“ sprechen, sondern auch Täterinnen einbeziehen.
Kritisiert wird an der Bezeichnung, dass ein Missbrauch immer auch einen richtigen sexuellen Gebrauch von Kindern suggeriert.
Neben der Bezeichnung „Sexueller Missbrauch“, die der juristischen Terminologie im Strafgesetzbuch entspricht, hat sich die Bezeichnung „Sexualisierte Gewalt“ im fachöffentlichen Diskurs durchgesetzt, die hervorhebt, dass die Sexualität dafür benutzt wird, um Gewalt auszuüben. Es geht also in erster Linie um Gewalt, die über sexuelle Verhaltensweisen zum Ausdruck gebracht wird.
Auch für sexualisierte Gewalt durch Geschwister gibt es keine einheitliche Definition. Das macht auch internationale Forschungsarbeiten schwer miteinander vergleichbar, denn zunächst muss immer zuerst geprüft werden, welche Definition überhaupt zugrunde liegt. Die Definitionen können sich stark voneinander unterscheiden, zum Beispiel in Bezug auf die Frage welche Handlung überhaupt als sexualisierte Gewalt gewertet werden (nur Handlungen mit direktem Körperkontakt oder auch Handlungen wie z.B. der Zwang zum Betrachten von Pornographie?) oder in Bezug auf die Frage, wer mit dem Begriff Geschwister erfasst wird (nur leibliche Geschwister oder auch Halb-, Stief-, Pflege- und Adoptivgeschwister?). In einigen Studien wird sexualisierte Gewalt so definiert, dass immer ein bestimmter Altersunterschied zwischen den Geschwistern vorhanden sein muss (dieser wird häufig auf fünf Jahre festgelegt), damit man überhaupt von sexualisierter Gewalt sprechen kann. Dadurch werden viele Fälle, bei denen dieser Altersunterschied nicht gegeben ist per se nicht als sexualisierte Gewalt erfasst, auch wenn Gewalt und Zwang eingesetzt wurden.
Peter Yates und Stuart Allardyce aus Schottland definieren sexuellem Missbrauch durch Geschwister folgendermaßen:
Verhalten, das sexuellen, körperlichen und emotionalen Schaden verursacht, einschließlich sexuell missbräuchlichen Verhaltens, das Gewalt beinhaltet.3
Kritisch anzumerken ist bei dieser Definition, dass nicht alle Betroffenen immer auch zwangsläufig „einen Schaden“ erfahren. Es gibt auch Betroffene, die keine negativen Folgen berichten, vielleicht weil sie über viele Schutzfaktoren (Resilienz) verfügen oder weil die Handlungen geringgradig (weniger intensiv) waren. Trotzdem kann es sich aber um sexualisierte Gewalt gehandelt haben.
Ich schlage die folgende Definition vor:
Sexualisierte Gewalt durch Geschwister umfasst sexuelle Handlungen an biologischen, Adoptiv-, Halb-, Stief- oder Pflegegeschwistern, die sich sowohl von entwicklungstypischen als auch von unangemessenen und problematischen sexuellen Verhaltensweisen abgrenzen. Bei sexualisierter Gewalt werden sexuelle Handlungen entweder gegen den Willen des Geschwisters vorgenommen oder das Geschwister kann aufgrund einer körperlichen, psychischen, kognitiven oder sprachlichen Unterlegenheit nicht wissentlich zustimmen. Ein bestehendes Machtverhältnis und oft auch Vertrauensverhältnis wird von den sexualisiert-übergriffigen jungen Menschen ausgenutzt, um eigene Bedürfnisse (insbesondere Macht, Kontrolle, Dominanz, Nähe, Sexualität, Intimität) durch sexuelle Handlungen zu befriedigen. Sexualisierte Gewalt durch Geschwister kann, muss aber nicht, mit körperlicher Gewalt, einhergehen. Häufig wird die emotionale Bindung zum Geschwister ausgenutzt.
Deutliche Anzeichen für sexualisierte Gewalt sind: ein großer Altersunterschied zwischen den Geschwistern, ein deutliches Machtungleichgewicht, sexuelle Verhaltensweisen, die schwerwiegend sind (z.B. mit gewaltsamen Penetrationen) und sexuelle Verhaltensweisen, die nicht durch altersangemessene Neugierde motiviert sind. 4
Im Menüpunkt „Erläuterung: Sexualisierte Gewalt durch Geschwister“ wird genauer erklärt, wie man sexualisierte Gewalt erkennt und von anderen sexuellen Verhaltensweisen abgrenzen kann.
Im Umgang mit dem sensiblen Thema „sexualisierte Gewalt“ ist es wichtig, eine sensible Sprache zu verwenden. Begriffe wie „Opfer“ und „Täter:in“, die stark etikettieren, sind im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt durch Kinder und Jugendliche möglichst zu vermeiden. Diese Bezeichnungen werden im juristischen Kontext verwendet, sind im sozialpädagogischen Handeln jedoch eher kontraproduktiv. Junge Menschen befinden sich noch in einer frühen Phase ihrer Persönlichkeitsentwicklung und durchlaufen einen fortwährenden Lern- und Entwicklungsprozess. Selbst wenn die sexualisierten Übergriffe schwerwiegend sind und eine angemessene Bewältigung der Risiken, einschließlich der Verhinderung einer Wiederholung des Verhaltens, erforderlich ist, darf nicht aus dem Blick geraten, dass diejenigen, die dieses schädigende Sexualverhalten zeigen, immer noch Kinder und Jugendliche sind. Aufgrund ihres jungen Alters und ihrer fehlenden Schuldfähigkeit sind sie besonders schutzbedürftig und benötigen angemessene Unterstützung und Interventionen, um sich gesund entwickeln zu können und solche Verhaltensweisen zu überwinden.
Die Zuschreibung „Täter/in“ bezieht sich auf die gesamte Person und nicht nur auf das Verhalten und birgt das Risiko (siehe Labeling Approach oder Self-fulfilling Prophecy), dass eine Identität kreiert wird, die von den sexualisiert-übergriffigen Kindern und Jugendlichen übernommen wird und zur Abwertung der gesamten Person (und nicht nur der Handlungen) führt. Für eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung und die Verhinderung weiterer sexualisierter Übergriffe ist es besonders wichtig, dass die komplexe Persönlichkeit eines Menschen nicht auf ein bestimmtes problematisches, schädigendes Verhalten reduziert wird. Stattdessen müssen auch Stärken und Ressourcen gewürdigt und einbezogen werden. Ansonsten erhöht sich das Risiko für weitere sexualisierte Übergriffe.
Darüber hinaus zeigen Forschungsergebnisse, dass viele Kinder und Jugendliche, die Geschwister durch sexuelle Handlungen schädigen, selbst zuvor „Opfer“ von Misshandlungen (emotional, körperlich, sexuell) waren. Sie haben also genau genommen einen doppelten Status, als „Opfer“ und „Täter/in“. Die Ausübung von sexualisierter Gewalt dient oft u.a. auch als (problematische) Bewältigungsstrategie (Coping-Strategie) für eigene Misshandlungserfahrungen. Gleichwohl gibt es keinen Kausalzusammenhang zwischen eigener Opfererfahrung und späterer Ausübung von Gewalt. Die meisten Menschen, die selbst Gewalt erfahren haben, geben keine Gewalt weiter.
Die Unterteilung „Opfer“/“Täter:in“ greift auch in den Fällen zu kurz, in denen sich die Dynamik im Laufe der Zeit verändert (z.B. ein Jugendlicher, der jahrelang sexualisierte Übergriffe durch seine Schwester erfahren hat, zwingt diese zum Geschlechtsverkehr).
Es ist auch wichtig zu betonen, dass Kinder und Jugendliche, die sexualisierte Gewalt ausüben, nicht als „Mini-Erwachsenen-Täter:innen“ betrachtet werden sollten. Untersuchungen haben gezeigt, dass die meisten Kinder und Jugendlichen, einschließlich Geschwister, das schädigende Sexualverhalten im Erwachsenenalter nicht fortsetzen. Jungen und Mädchen, die sexualisierte Gewalt gegen Geschwister ausüben, sind also nicht die Sexualtäter:innen von morgen! Hier handelt es sich scheinbar eher um getrennte Phänomene, wohlwissend, dass es eine Gruppe erwachsener Sexualtäter gibt, die bereits als Kinder/ Jugendliche sexualisierte Gewalt ausgeübt haben. Das schädigende Verhalten von Kindern und Jugendlichen ist oft als Reaktion auf belastende Lebenssituationen zu verstehen und hängt sehr stark davon ab, welche Entwicklungsbedingungen in den Familien vorherrschen. Es erfüllt eine bestimmte Funktion innerhalb der Familiendynamik.
Um sexualisierte Gewalt durch Kinder und Jugendliche zu benennen werden in Wissenschaft und Praxis unterschiedliche Formulierungen verwendet. Bezeichnungen wie „sexualisiert-grenzverletzendes Verhalten“ oder „sexualisiert-grenzverletzende Handlungen“ heben hervor, dass Grenzen verletzt werden. „Grenzverletzungen“ werden allerdings in der Regel so definiert, dass sie unabsichtlich geschehen und nur einmalig oder gelegentlich auftreten, daher ist der Begriff ungeeignet, um das Phänomen sexualisierter Gewalt vollständig zu erfassen. Andere sprechen von „sexualisiert-übergriffigen Handlungen“- damit sind absichtliche Handlungen gemeint, die häufiger und massiver auftreten. Diese Formulierung eignet sich daher besser und wird nachfolgend verwendet. In der englischsprachigen Fachliteratur wird die Bezeichnung „schädliches Sexualverhalten“ (harmful sexual behaviour) vermehrt genutzt und es wird vom „Kind, das geschädigt hat“ (child who has harmed) bzw. „vom Kind, das geschädigt wurde“ (child who has been harmed) gesprochen. Auch diese Bezeichnungen werden nachfolgend genutzt.
Der Begriff „Opfer“ hat ebenfalls eine stigmatisierenden Wirkung. Es wird diskutiert inwiefern diese Bezeichnung Hilflosigkeitsprozesse fördert und das „Opfer-sein“ manifestiert. Unter Jugendlichen wird dieser Begriff oft abwertend als Schimpfwort genutzt. Einige Menschen, die Erfahrungen sexualisierter Gewalt machen mussten, bevorzugen eher Bezeichnungen wie „Überlebende sexualisierte Gewalt“ oder etwas neutraler „Betroffene sexualisierter Gewalt“ – diese Bezeichnung wird auch von mir genutzt.
Abschließend sei darauf hingewiesen, dass der in den Medien oft genutzte Begriff „Pädophilie“, der eine Störung der Sexualpräferenz bezeichnet, im Kontext sexualisierte Gewalt durch Geschwister nicht relevant ist. Kinder und Jugendliche, die sexualisierte Gewalt ausüben, tun dies aufgrund sehr unterschiedlicher Motive (z.B. Macht, Kontrolle, Dominanz ausüben, Wunsch nach sexueller Intimität, (scheinbare) Überwindung eigener Ohnmachtsgefühle usw.). Auch die meisten erwachsenen Menschen, die sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen ausüben, sind nicht pädophil.
1 Watts, B. (2020). Sibling sexual abuse. A guide for confronting America`s silent epidemic. Independently published.
2 Bange, D. & Deegener, G. (1996). Sexueller Mißbrauch an Kindern. Ausmaß, Hintergründe, Folgen. Psychologie Verlags Union.
3 Yates, P. & Allardyce, S. (2021). Sibling sexual abuse: A knowledge and practice overview. Centre of expertise on child sexual abuse. https://www.csacentre.org.uk/app/uploads/2023/09/Sibling-sexual-abuse-report.pdf
4 King.Hill, S., McCartan, K., Gilsenan, A., Adams, A. & Beavis, J. (2023). Understanding and Responding to Sibling Sexual Abuse (Series: Palgrave Studies in Risk, Crime and Society). Palgrave Macmillan