08 Risikofaktoren

Warum wird sexualisierte Gewalt durch Geschwister ausgeübt? Ein Blick auf Risikofaktoren…

Viele Menschen haben falsche Vorstellungen von jungen Menschen, die sexualisiert-übergriffiges Verhalten zeigen. Häufig sind es nämlich nicht die selbstbewussten, starken Typen, die immer im Mittelpunkt stehen, sondern junge Menschen, die eher am Rande stehen und eine Menge eigener Probleme mitbringen. Junge Menschen, die sexualisiert-übergriffiges Verhalten zeigen, tun dies aufgrund unterschiedlicher Motive, häufig steckt ein Mix aus geringen sozialen Kompetenzen, Bindungsproblemen, Traumatisierungen, Wunsch nach sexueller Intimität und ein fehlender Zugang zu eigenen Emotionen dahinter. Einige dieser jungen Menschen möchten sexuelle Handlungen ausprobieren, vielleicht auch verstärkt, weil sie Pornographie konsumieren – sie können aber schlecht mit Gleichaltrigen in Beziehung treten, weil sie vielleicht noch wenig Kompetenzen für die Beziehungsgestaltung mitbringen und sie nötigen daher zur Kompensation unterlegene Geschwister. Andere sind eifersüchtig oder fühlen sich zurückgesetzt, weil beispielsweise jüngere oder beeinträchtigte Geschwister mehr Aufmerksamkeit von den Eltern bekommen und sich alles nur um ihre Geschwister zu drehen scheint. Wiederum andere haben von Beginn an eine machtvolle Position in der Familie, beispielsweise weil sie Jungen sind oder älter als ihre Geschwister und nutzen das sexualisiert-übergriffige Verhalten als Mechanismus der Machtdemonstration, um sich überlegen und stark zu fühlen. Weitere – und das ist der Großteil – haben ein geringes Selbstwertgefühl, zum Beispiel weil sie wiederholte Erfahrungen von Hilflosigkeit und Ohnmacht gemacht haben, wenn sie selbst zuvor emotionale, körperliche und/oder sexualisierte Gewalt erfahren haben. Sie fühlen sich nicht gesehen, nicht geliebt, sind möglicherweise traumatisiert und sie möchten ihre eigene Ohnmacht überwinden, ihre „Opferrolle“ verlassen, indem sie selbst die aktive Rolle „des Akteurs/der Akteurin“ einnehmen und andere schädigen. Durch die Abwertung anderer Menschen wird versucht, die eigene Person aufzuwerten. Kinder und Jugendliche, die die Grenzen anderer Menschen verletzen sind meistens auch selbst Menschen mit verletzten Grenzen, formulierte Torsten Kettritz, ein Freund und Kollege, der langjährig mit sexualisiert-übergriffigen jungen Menschen gearbeitet hat, treffend.

Die Gründe für sexualisierte Gewalt sind stets vielschichtig und multifaktoriell. Es ist immer ein Zusammenspiel unterschiedlicher Risikofaktoren. Diese können auf verschiedenen Ebenen, sei es individuell, in Bezug auf die Familie oder die Gesellschaft, verankert sein. In der Forschung wird ein Schwerpunkt auf die familiäre Ebene gerichtet, weil die sexualisierte Gewalt in einem familiären Kontext gezeigt wird und dort eine Funktion erfüllt und die sexuellen Verhaltensweisen zugleich auch stark durch den familiären Kontext bedingt sind. Einstellungen, Haltungen, familiäre Überzeugungen und innerfamiliäre Dynamiken müssen verstanden werden, um sexualisierte Gewalt durch Geschwister im Kontext der Familie zu verstehen.

Nachfolgend wird die familiäre Ebene daher zuerst in den Blick genommen.

Bevor die zentralen Merkmale betroffener Familien betrachtet werden, vorab einige systemische Grundgedanken zum Konstrukt „Familie“:

Jede Familie stellt ein System dar, das sich durch eigene Regeln, Rollen und eine bestimmte Art des Austausches, der Kommunikation (Interaktionsmuster) von anderen Familiensystemen unterscheidet. Verhaltensweisen einzelner Familienmitglieder sind das Ergebnis sich gegenseitig bedingender Interaktionen innerhalb eines sozialen Systems. Der Vergleich mit einem Mobile verdeutlicht die Grundannahme systemischen Denkens. Sobald ein Teil des Mobiles in Bewegung gerät, hat dies zwangsläufig auch Auswirkungen auf alle anderen Teile des Mobiles. Alle Teile geraten in Bewegung, bis ein neues Gleichgewicht hergestellt wird. Ähnlich ist es auch in der Familie: das Verhalten einzelner Familienmitglieder beeinflusst immer auch das Verhalten anderer Familienmitglieder, die miteinander im Austausch stehen. Daher müssen Verhaltensweisen von Geschwistern immer auch im Kontext der Verhaltensweisen der gesamten Familie betrachtet werden.

Sexualisierte Gewalt durch Geschwister kann grundsätzlich in allen sozialen Schichten und in allen Familien auftreten, auch in solchen, die sich offensichtlich durch Schutzfaktoren kennzeichnen. Es gibt keinen bestimmten „Archetyp“ der Familien, allerdings scheinen unterschiedliche familiäre Hintergründe, die international in vielen Forschungsarbeiten herausgearbeitet wurden, das Risiko für das Auftreten sexualisierter Gewalt durch Geschwister zu begünstigen. Risikofaktoren sind Faktoren, die im wechselseitigen Zusammenspiel, bei unterschiedlicher Gewichtung der einzelnen Faktoren zu einem Bedingungsgefüge für sexualisierte Gewalt führen können. Jeder der nachfolgend vorgestellten Faktoren, kann für sich genommen, das Risiko begünstigen, es treffen also nicht immer alle Faktoren auf eine Familie zu. Demgegenüber stehen auch Schutzfaktoren, die bestimmte Risiken wiederum abmildern können. Es kann zum Beispiel sein, dass ein Junge in seiner Familie schwer misshandelt wurde und u.a. auch sexualisierte Gewalt erfahren musste, das wäre beispielsweise ein Risikofaktor für die Entstehung sexualisierter Gewalt. Vielleicht besteht aber eine sehr enge vertrauensvolle Beziehung zu einer engen Freundin der Familie, die sich häufig um den Jungen kümmert, das wäre wiederum ein Schutzfaktor, der das Risiko selbst sexualisierte Gewalt auszuüben, abmildern könnte (Resilienz).

Wichtig ist zu verstehen, dass es keinen kausalen Zusammenhang zwischen einem Risikofaktor und der Entstehung sexualisierter Gewalt gibt. Es gibt Familien, auf die viele der hier skizzierten Risikofaktoren zutreffen und in denen es scheinbar wenig Schutzfaktoren (Ressourcen) gibt, in denen es aber trotzdem nicht zur Ausübung sexualisierter Gewalt kommt. Hier werden andere (Problem-)Bewältigungsstrategien gewählt als die Ausübung sexualisierter Gewalt.

Zu beachten ist stets, dass wir mit der Forschung noch recht am Anfang stehen und es dringend weiterer Forschung bedarf, insbesondere in Deutschland, aber auch international. Wir beziehen viel Wissen aus ausländischen Studien mit geringer Teilnehmendenanzahl, die nicht auf die Allgemeinbevölkerung übertragbar sind (nicht repräsentativ). Häufig werden Studien zudem in „klinischen Settings“ durchgeführt. Das bedeutet, es werden Menschen befragt, die bereits therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen. Diese Familien sind also schon im Hilfesystem angekommen. Möglich wäre, dass diese Fälle schwerwiegender sind und wir daher wenig über Familien erfahren, in denen geringgradigere sexualisierte Gewalt zum Alltag gehört. Familien, in denen Eltern besonders viel daran gelegen ist, eine Offenlegung zu verhindern, beispielsweise weil die Eltern ihr gesellschaftlich hohes Ansehen wahren möchten und eine Ächtung befürchten, erscheinen vielleicht eher nicht im Hilfesystem und werden daher auch nicht zum Gegenstand der Forschung. Solche Aspekte müssen stets mitgedacht werden, wenn man sich mit dem Forschungsstand beschäftigt.

Nun ein Überblick über die familiendynamischen Risikofaktoren, die anschließend erläutert werden:

Familiendynamische Risikofaktoren für sexualisierte Gewalt durch Geschwister

  • emotionale und/oder physische Abwesenheit der Eltern (wenig Liebe/Geborgenheit, fehlende Beaufsichtigung der Kinder)
  • große Familiengröße (hohe Geschwisteranzahl)
  • häusliche Gewalt (insbesondere emotionale und körperliche Gewalt durch Männer an Frauen)
  • psychosoziale familiäre Stressfaktoren (finanzielle Probleme, Krankheiten, Drogenkonsum)
  • sexuelle, physische oder emotionale Viktimisierung (Kinder und Jugendliche, die sexualisierte Gewalt ausüben, haben in der überwiegenden Mehrheit eigene Misshandlungserfahrungen gemacht)
  • sexualisiertes Familienmilieu/fehlende Grenzen (u.a. freier Zugang zu Pornographie/Miterleben sexueller Kontakte der Eltern) oder sittenstrenges Familienmilieu (Verbot über Sexualität zu reden)
  • transgenerationale Missbrauchs- und Gewaltdynamik (auch Eltern zuvor betroffen)

Emotionale und/oder physische Abwesenheit der Eltern (wenig Liebe/Geborgenheit, fehlende Beaufsichtigung der Kinder)

Die Abwesenheit und Unerreichbarkeit der Eltern stellt ein zentrales Charakteristikum vieler betroffener Familien dar. Oft handelt es sich auch um Familien mit einem alleinerziehenden Elternteil. 37 Mit der Abwesenheit wird der Grundstein für sexualisierte Gewalt durch Geschwister gelegt und sie erleichtert die Fortsetzung der sexualisiert-übergriffigen Handlungen. Teilweise sind beide Eltern oder nur Mutter/Vater körperlich abwesend, weil sie beruflich sehr stark eingespannt sind, beruflich verreisen müssen, getrennt leben oder auch weil ein Elternteil bereits verstorben ist. Dann fehlt die Beaufsichtigung der kindlichen Aktivitäten durch Erwachsene. Eine emotionale Abwesenheit der Eltern liegt dann vor, wenn Eltern die natürlichen emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder nach Liebe, Geborgenheit, Halt und Schutz nicht wahrnehmen oder aber nicht befriedigen können, sei es beispielsweise aufgrund eigener (Bindungs-)Traumatisierungen oder gesundheitlicher Einschränkungen (zum Beispiel psychischer Erkrankungen: Depression, Alkoholabhängigkeit). Den Müttern oder Vätern gelingt es nicht, eine vertrauensvolle Beziehung zu ihren Kindern aufzubauen, die sich durch Feinfühligkeit kennzeichnet. Sensibilität, Aufmerksamkeit und Einfühlungsvermögen fehlen.

Infolge der elterlichen Abwesenheit werden die Kinder häufig sich selbst überlassen, sie verbringen viel unstrukturierte Zeit miteinander und/oder einem Geschwister wird die Verantwortung der Eltern zur Beaufsichtigung der anderen Geschwister übertragen.

Wenn ein Elternteil abwesend ist, möchten die Kinder das anwesende Elternteil nicht auch noch mit ihren Sorgen und Problemen belasten, sie halten sich möglicherweise eher zurück. Infolge der abwesenden Eltern entstehen unsichere Bindungen zwischen den Kindern und Mutter bzw. Vater, die weitreichende Folgen haben (u.a. Angst, sozialer Rückzug, Depressionen). Kürzlich zeigte eine Studie, dass etwa 40% der befragten jungen Menschen, die Übergriffe an Geschwistern begangen haben, von Beziehungsabbrüchen zu Eltern/Bezugspersonen in der Kindheit berichtete. 38

Zitate von Jungen, die sexualisiert-übergriffiges Verhalten gezeigt haben:
„Also mein Vater kam, wenn, immer total alkoholisiert nach Hause, er hatte n Alkoholproblem. Und er hat dann immer auf meine Geschwister eingeprügelt, hat mich vorn Fernseher gesetzt.“
„Mein richtiger Vater hat sich nie um mich gekümmert, auch nicht, in der Zeit wo wir zusammen waren.“
„Ich habe sechs Jahre bei meiner Oma gelebt, da hab ich dann halt drei Jahre noch bei meiner Mutter gelebt, die ist dann irgendwann abgehauen, nach dem 4. Geburtstag oder so.“

Große Familiengrößen (hohe Geschwisteranzahl)

In vielen betroffenen Familien leben mehr als zwei Geschwister zusammen, zum Teil handelt es sich um Patchworkfamilien. Auch eine hohe Geschwisteranzahl kann einen Mangel an Beaufsichtigung begünstigen, da kinderreiche Familien hohe Anforderungen an die Eltern stellen. Nicht selten teilen sich dann auch mehrere Geschwister ein Zimmer. Auf Überforderungssituationen reagieren einige Eltern, indem sie ältere Geschwister bitten, auf jüngere Geschwister aufzupassen und somit deren Machtposition begünstigen. Zudem können sich Geschwister zurückgesetzt fühlen, wenn sie die Aufmerksamkeit ihrer Eltern mit weiteren Geschwistern teilen müssen. Gefühle von Eifersucht können die Entstehung sexualisierter Gewalt mitbegründen – besonders dann, wenn Kinder sich schon in sehr jungen Jahren abgelehnt fühlen.

Zitate von Jungen, die sexualisiert-übergriffiges Verhalten gezeigt haben:
„Ich war ungeplant, meine Mutter wollte gar kein Kind.“

„Meine Eltern haben sich immer ein Mädchen gewünscht, einen Jungen wie mich wollten sie gar nicht! Meine Schwester haben sie dann vergöttert.“

Häusliche Gewalt (insbesondere emotionale und körperliche Gewalt durch Männer an Frauen)

Unter häuslicher Gewalt wird emotionale (psychische), körperliche und sexualisierte Gewalt verstanden, die von Partner:innen (oder Ex-Partner:innen) ausgeht. In der überwiegenden Mehrheit der Fälle sind Frauen von der Gewalt betroffen. Männer üben die Gewalt in den meisten Fällen aus. Der Begriff „häusliche Gewalt“ verschleiert diese Geschlechterdimension. Immer wieder zeigen Studien, wie weit verbreitet Gewalt an Frauen ist. Es liegen häufig tiefgreifende Konflikte auf der Paarebene vor – die gewaltsam zu lösen versucht werden. Studien zu sexualisierter Gewalt durch Geschwister zeigen, dass es nicht selten eine patriarchalische Rollenverteilung gibt, die sich durch eine rigide und stereotype Machtverteilung zwischen männlichen und weiblichen Familienmitgliedern kennzeichnet. Der (Stief-)Vater übernimmt dabei die Rolle des autoritären Familienoberhauptes und trifft autonome Entscheidungen. Von den Kindern werden Folgsamkeit, Gehorsam und Unterordnung erwartet. Regelverstöße werden mit Sanktionen, nicht selten unter Einsatz von Gewalt geahndet. Die Autorität wird vom Vater auf den Sohn übertragen und befähigt diesen, sich machtvoll gegen Geschwister durchzusetzen. Die Akzeptanz von Alltagssexismus, die Geringschätzung von Frauen und übergriffigem Verhalten bildet den Grundstock für die Akzeptanz von sexualisierter Gewalt innerhalb der Familie, auch seitens der Betroffenen, die diese als „normal“ erleben. Darüber hinaus gilt es auch, den weiteren sozialen (kulturellen) Kontext in den Blick zu nehmen, in Bezug auf die Frage welche Stärken und Unterstützung er bereithält, aber auch in Bezug auf die Fragen inwiefern Barrieren für die Offenlegung und die Zusammenarbeit mit Fachkräften bereitgestellt werden.

Zitate von Jungen, die sexualisiert-übergriffiges Verhalten gezeigt haben:
„Der hat auch schon Alkohol getrunken, und der war auch schon so aggressiv. Also ich hab es selbst miterlebt. Ich bin mal zu meiner Nachbarin runtergegangen, hab gefragt wo meine Mutter ist, dann bin ich nach draußen gegangen, dann hat er die verprügelt. Das habe ich gesehen mit meinen eigenen Augen (…). Ich hab zu meiner Mutter gesagt, ich hätte ihr geholfen, aber ich konnte nicht.“

„Ich war noch total klein, da ist mein Vater auf meine Mutter losgegangen, hat ihr auch ein Messer an die Kehle gehalten. Ich und meine Geschwister haben versucht dazwischen zu gehen, aber es hat nichts geholfen, weil wir noch so klein waren. Er hat gesehen, wie wir geweint haben und geschrien.“

Psychosoziale familiäre Stressfaktoren (finanzielle Probleme, Krankheiten, Drogenkonsum)

Verschiedene Lebenslagen können das Wohlbefinden und die Funktionsfähigkeit von Familien beeinträchtigen und erhöhen das Risiko für sexualisierte Gewalt. Finanzielle Belastungen können zu Stress innerhalb der Familie führen, die Pflege eines erkrankten oder beeinträchtigten Familienmitglieds kann emotional und auch finanziell belastend sein, genau wie eine Suchtproblematik. Wenn Familienmitglieder aufgrund von Stressfaktoren wie finanziellen Problemen, Beziehungskonflikten oder Arbeitsbelastungen mit ihren eigenen Problemen kämpfen, können sie ihren Kindern möglicherweise wenig Halt und Geborgenheit geben und weniger Aufmerksamkeit auf ihr Verhalten richten. Aufgrund eigener Überlastung können sie keine Schutzfunktion wahrnehmen.

Sexuelle, physische oder emotionale Viktimisierung (Kinder und Jugendliche, die sexualisierte Gewalt ausüben, haben in der überwiegenden Mehrheit eigene Misshandlungserfahrungen gemacht)

Studien zeigen, dass ein großer Anteil der Geschwister, die sexualisiert-übergriffige Handlungen zeigen, selbst zuvor sexualisierte, körperliche und/oder emotionale Gewalt erfahren mussten. Das enorme Ausmaß traumatischer Kindheitserfahrungen ist in vielen Studien gut belegt. Viele Jungen weisen eine massive Traumatisierung auf und Hilfe von außen blieb lange aus. Häufig haben die Eltern Schwierigkeiten, Regeln und Vorschriften zuhause durchzusetzen und neigen dazu, Gewalt als Disziplinierung einzusetzen. Oft versuchen die Jungen oder Mädchen, ihre eigenen traumatischen Erfahrungen, Gefühle von Ohnmacht, Hilflosigkeit und Angst, durch sexualisierte Gewalt zu bewältigen. Daher ist es wichtig, in der Beratung und Therapie nicht nur das problematische Verhalten des übergriffigen Kindes oder Jugendlichen zu betrachten, sondern auch zu verstehen, welche Bedürfnisse hinter dieser Gewalt stehen und wie diese auf eine nicht-schädigende Weise erfüllt werden können. Es ist entscheidend, die Ressourcen zu stärken und den Hilfebedarf des sexualisiert-übergriffigen Kindes oder Jugendlichen, auch unter traumapädagogischen/ traumatherapeutischen Gesichtspunkten, zu berücksichtigen.

Ein Jugendlicher äußerte, dass er erst selbst „Täter“ werden musste, um Hilfe zu erhalten. Als er zuvor selbst über viele Jahre von seinem Vater misshandelt wurde, hat er keine Hilfe erfahren, obwohl das Jugendamt eingeschaltet wurde. Seine Not wurde nicht gesehen. Das ist leider kein Einzelfall, schon gar nicht in einem überlasteten Jugendhilfesystem.

An dieser Stelle sei ein Aspekt klargestellt: Nicht alle jungen Menschen, die selbst in Kindheit/Jugend (sexualisierte) Gewalt erfahren haben, geben diese später weiter – der Großteil von ihnen tut dies nicht. Es wäre also nicht nur ethisch bedenklich, sondern auch sachlich falsch, alle Betroffenen von Gewalt als potentielle Täter:innen zu verstehen. Betrachtet man jedoch ausschließlich die Gruppe junger Menschen, die sexualisiert-übergriffiges Verhalten zeigt, dann wird deutlich, dass von ihnen der Großteil selbst Formen von Kindesmisshandlung erfahren hat. Es kommt auch häufig vor, dass der sexualisierten Gewalt durch ein Geschwister, sexualisierte Gewalt durch einen (Stief-)Vater vorausgegangen ist.

Zitate aus Interviews mit sexualisiert-übergriffigen Jungen:
„Meine Mutter war ja früher sehr, sehr aggressiv, stand mir auf dem Rücken oder hat die Hand umgedreht, solche Dinge.“

„Ich hab viel gelitten unter meinem Stiefvater, meine Mutter auch. Wir wurden verprügelt und sowas. Er hatte mich unter eine kalte Dusche gestellt, ohne Grund. Ja, und früher konnte ich nichts machen.“

„Ja, mein Leben war chaotisch. Ich bin mit Schlägen aufgewachsen vom Großvater, er hat mich windelweich geschlagen, und von den Freunden meiner Mutter.“

Sexualisiertes Familienmilieu/fehlende Grenzen (u.a. freier Zugang zu Pornographie/Miterleben sexueller Kontakte der Eltern) oder sittenstrenges Familienmilieu (Verbot über Sexualität zu reden)

Das Familienmilieu gilt in vielen Familien als „sexualisiert“ oder sexuell stimulierend. Das bedeutet, dass die Kinder schon in jungen Jahren mit einer Sexualität konfrontiert werden, die sie in ihrem Entwicklungsstand überfordert. Es gibt keine angemessenen Grenzen zwischen der Sexualität Erwachsener und der kindlichen Sexualität: Kinder bezeugen sexuelle Aktivitäten zwischen ihren Eltern, haben freien Zugang zu pornographischen Medien, werden mit obszönen Äußerungen ihrer Eltern über sexuelle Praktiken konfrontiert oder aber Eltern flirten mit ihren Kindern. Insbesondere der Einfluss von Pornographie wird als Risikofaktor diskutiert. Viele der jungen Menschen, die sexualisiert-übergriffiges Verhalten zeigen, konsumieren regelmäßig, viele täglich, Pornographie. Die pornographischen Medien vermitteln höchst fragwürdige Botschaften über Sexualität und Frauen-/Männerbilder, die sich bei regelmäßigen Konsum manifestieren. In vielen Filmen setzen Männer auch mit Aggression und Gewalt, Sexualität durch und Frauen reagieren mit Stöhnen und fordern mehr davon ein. Diskutiert wird, inwiefern kindliche und jugendliche Konsument:innen dadurch einen Zusammenhang zwischen Sexualität und Aggression erlernen. Das Internet eröffnet hier unbegrenzte Möglichkeiten.

Auch in diesem Kontext sei klargestellt: Der Pornographiekonsum alleine, führt nicht kausal zur Entwicklung sexualisierter Gewalt. Im Zusammenspiel mit anderen Risikofaktoren wie zum Beispiel einer fehlenden Sexualaufklärung und traumatischen Kindheitserfahrungen oder abwesenden Eltern erhöht sich der gefährdende Einfluss der Pornographie jedoch erheblich. Dazu ein Beispiel: Bei einem Jungen, der eine sichere Bindung zu seinen Eltern hat, gewaltfrei aufgewachsen ist und über seine Gefühle sprechen kann, wird der Konsum von Pornographie sehr wahrscheinlich nicht dazu führen, dass der Junge sexualisierte Gewalt ausübt. Ein größeres Risiko geht vom Pornographiekonsum aus, wenn der Betrachter ein Junge ist, der sozial isoliert ist, selbst Erfahrungen mit körperlicher Gewalt gemacht hat und der in einem sexualisierten Familienmilieu aufgewachsen ist.

Fallbeispiele:
Ein 11-jähriger Junge schaut sich täglich Pornofilme im Internet an. Die Filme werden zunehmend brutaler. Er hat oft Stress mit seinen Eltern. Die Filme helfen ihm „sich zu entspannen“. Eines Tages fragt er seine siebenjährige Schwester, ob sie einen Film mit ihm nachspielen möchte.

Ein 10-jähriger Junge schläft seit früher Kindheit im gemeinsamen Bett mit den Eltern. Er ist dabei, wenn die Eltern Geschlechtsverkehr ausüben und bekommt mit, dass seine Mutter dabei oft schreit und weint. Er möchte das auch mit seiner jüngeren Schwester ausprobieren. In seiner Wahrnehmung ist es normal, als seine Schwester weint und schreit.

Andererseits stellen auch sittenstrenge, puritanische Familienmilieus ein Risiko dar – also das andere Extrem. In diesen Familien darf nicht über Sexualität gesprochen werden – das Thema wird hochgradig tabuisiert. Dieses Familienklima fördert einerseits die Bereitschaft der Geschwister, mittels sexueller Kontakte gegen ihre Eltern zu rebellieren. Andererseits besteht in sittenstrengen Familien ebenso ein erhöhtes Risiko für sexualisierte Gewalt. Kinder, die nicht über Sexualität aufgeklärt wurden; die nicht benennen können, wie Körperteile heißen; die nicht gelernt haben, dass sie selbst über ihren Körper bestimmen dürfen und das Recht haben „Nein“ zu sagen; können sexualisiert-übergriffige Handlungen nicht einordnen und sich selbst schlecht schützen. Wird das Sprechen über Sexualität verboten, wird dadurch das Schweigegebot, das immer charakteristisch für sexualisierte Gewalt ist, verstärkt. Eine Offenlegung wird durch massive Schuld- und Schamgefühle, die auch in dem Wissen entstehen, etwas Schlimmes/Verbotenes getan zu haben, erschwert.

Es gibt auch Familien, die sich sowohl durch eine sexualisierte als auch eine sittenstrenge Familienatmosphäre kennzeichnen. Beispielsweise läuft eine 16-jährige Tochter in Anwesenheit anderer Familienmitglieder mit entblößten Brüsten durch das Haus, aber in der Familie darf nicht über Sexualität gesprochen werden.

Transgenerationale Missbrauchs- und Gewaltdynamik (auch Eltern zuvor betroffen)

Unter einer transgenerationalen Missbrauchs- und Gewaltdynamik versteht man ein Muster oder einen Zyklus von Gewalt und Trauma, das/der sich über mehrere Generationen innerhalb einer Familie fortsetzt. Studienergebnisse zeigen, dass bei sexualisierter Gewalt durch Geschwister auch Eltern und/oder Großeltern zuvor in ihrer eigenen Biographie, Gewalt (körperlich/sexualisiert) erfahren haben.

Wenn Kinder in einer Umgebung aufwachsen, in der Misshandlung als normal oder akzeptabel angesehen wird, besteht das Risiko, dass sie ähnliche Verhaltensweisen übernehmen, wenn sie erwachsen sind und ihre eigenen Familien gründen. In der eigenen Kindheit körperlich misshandelte, sexuell missbrauchte oder vernachlässigte und in der Folge möglicherweise bindungsgestörte Mütter und Väter haben ein erhöhtes Risiko, dass sie selbst misshandelnd oder vernachlässigend gegenüber ihren eigenen Kindern agieren. Die Muster wiederholen sich, wenn sie nicht reflektiert/aufgearbeitet werden.

Nicht verarbeitete Traumata können auch dazu führen, dass Eltern Schwierigkeiten haben, Risikofaktoren und Warnsignale adäquat wahrzunehmen und angemessen auf ihre Kinder zu reagieren. Wenn eigene Grenzen überschritten wurden, kann es schwierig werden, Kinder für deren Grenzen zu sensibilisieren.
Es ist wichtig zu betonen, dass die Weitergabe von Misshandlungen von Generation zu Generation kein unvermeidliches Schicksal ist. Mit der richtigen professionellen Unterstützung, Prävention und Intervention können Familien den Kreislauf der Gewalt durchbrechen und Wege zur Heilung finden.

Fazit

Vor dem Hintergrund der dargestellten familiendynamischen Risikofaktoren wird deutlich, dass das sexualisiert-übergriffige Verhalten von Kindern und Jugendlichen (auch) als Reaktion auf belastende Lebenssituationen zu verstehen ist und die Entwicklung solcher Verhaltensweisen stark von den gegebenen Entwicklungsbedingungen in der Familie abhängt. Sexualisiert-übergriffiges Verhalten von Kindern und Jugendlichen wird in dysfunktionalen Familiensystemen gezeigt, in denen es chronische Probleme und Schwierigkeiten und toxische Beziehungen gibt, die das normale Funktionieren einer Familie beeinträchtigen und sich negativ auf das Wohlbefinden und die Interaktion in der Familie auswirken. Das Aufwachsen in einer dysfunktionalen Familie trägt dazu bei, dass:

  • die Bedingungen für das schädliche Verhalten geschaffen werden,
  • das schädliche Verhalten eher auftritt und
  • das sexualisiert-übergriffige Verhalten normalisiert und akzeptiert wird. 39

Daher darf kein verkürzter Blick auf die sexualisiert-übergriffigen Verhaltensweisen erfolgen, sondern die gesamte Familie muss bei der Hilfeplanung, mit den unterschiedlichen Hilfebedarfen im Fokus stehen. Es muss mit der gesamten Familie gearbeitet werden. Dabei ist es wichtig, auch vorhandene Ressourcen der Familie zu berücksichtigen.

Risikofaktoren auf individueller Ebene

Junge Menschen, die andere durch sexuelle Verhaltensweisen schädigen, stellen keine einheitliche (homogene) Gruppe dar. Auch in Bezug auf die individuelle Ebene gibt es nicht die eine Auffälligkeit, die eine psychische Störung, die ein solches Verhalten begründet. Zu berücksichtigen ist auch, dass diese „individuellen Faktoren“ nicht losgelöst von familiären Risikofaktoren betrachtet werden können. Denn es ist immer ein Zusammenspiel: individuelle Auffälligkeiten sind auch durch familiendynamische Faktoren (und auch gesellschaftliche Faktoren) mitbedingt. Das biopsychosoziale Modell, das an dieser Stelle nur skizziert werden kann, greift dieses Zusammenwirken der unterschiedlichen Ebenen nachvollziehbar auf. Es bietet einen hilfreichen Orientierungsrahmen, um die Ursachen von sexualisierter Gewalt besser verstehen zu können. Der Grundgedanke ist, dass Menschen mit bestimmten biologischen Ausgangsbedingungen geboren werden. Im Wechselspiel mit sozialen Faktoren und den Erfahrungen, die im Kontakt mit anderen Menschen gemacht werden, entwickelt sich eine „innerseelische Struktur“, das „Selbst“. Dieser Kern der Persönlichkeit tritt in Kontakt zur Umwelt und folglich kommt es wechselseitig zur Einflussnahme von Individuum und Umwelt. 40 Die individuelle Ebene steht also nicht isoliert, für sich alleine.

Die individuelle Ebene wird international in den Studien bislang nur randständig betrachtet, denn es besteht Einigkeit in der Annahme, dass sexualisierte Gewalt durch Geschwister in erster Linie vor dem Hintergrund einer dysfunktionalen Familienstruktur zu erklären ist.

Nun ein Blick auf individuelle Risikofaktoren: Junge Menschen, die sexualisiert-übergriffige Handlungen an Geschwistern zeigen, weisen ein hohes Maß an internalisierten Problemen auf. Dazu zählen: Nervosität, Ängstlichkeit, depressive Gefühle oder somatische Beschwerden (u.a. Schwindel oder Müdigkeit). Im Vergleich zu jungen Menschen, die außerfamiliär sexualisierte Gewalt ausgeübt haben, zeigt diese Gruppe häufiger vor dem Alter von zehn Jahren entwicklungsunangemessenes sexuelles Verhalten, einschließlich öffentlicher Selbststimulation und unangemessene Berührung anderer. Die jungen Menschen haben darüber hinaus auffallend häufig soziale Ausgrenzung erfahren. Sie werden beispielsweise durch Gleichaltrige abgelehnt und machen Erfahrungen von Mobbing in der Schule (andauernde körperliche Übergriffe und emotionale Erniedrigung). Einige Studienergebnisse deuten darauf hin, dass ihre sozialen Kompetenzen eingeschränkt sind. Diese Ergebnisse unterstützen die Hypothese, dass Jugendliche, die keine angemessenen Beziehungen zu Gleichaltrigen (Peers) herstellen können, möglicherweise auf (jüngere) Geschwister zurückgreifen, um ihre Bedürfnisse zu erfüllen – auch den Wunsch nach sexueller Intimität. 41

Auffallend ist in den Studien zudem der hohe Anteil junger Menschen mit eigenen Erfahrungen von körperlicher, sexualisierter, emotionaler Gewalt – häufig ausgeübt durch Väter, Stiefväter, Partner der Mutter oder Mütter. Viele mussten zudem häusliche Gewalt bezeugen. Heute weiß man, dass auch die Bezeugung von Gewalt zu schweren Langzeitfolgen führen kann, ebenso wie die eigene direkte Erfahrung von Gewalt. Auch Bindungsstörungen scheinen eine bedeutende Rolle zu spielen.

Insgesamt zeigen Vergleichsstudien, dass sexualisiert-übergriffige Geschwister mit deutlich mehr Belastungen konfrontiert sind, als andere junge Menschen, die sexualisierte Gewalt ausüben.

Risikofaktoren auf gesellschaftlicher Ebene

Familien leben nicht in einem losgelösten Raum, sondern sind Teil einer Gemeinschaft, einer Gesellschaft, einer Kultur. Auch diesbezüglich gibt es Faktoren, die sexualisierte Gewalt begünstigen.

Dazu zählen u.a. die weit verbreitete Verfügbarkeit von Missbrauchsabbildungen (im Internet); für Kinder leicht zugängliche Pornografie; eine Sozialisation von Männern, in der die Ausübung sexueller Dominanz betont wird; die Darstellung von Kindern als sexualisierte Objekte in den Medien; eine fehlende sexualpädagogische Begleitung von Kindern; die Missachtung von Frauen- und Kinderrechten; ungerechte Rechtssysteme, die Opfern keinen Schutz bieten oder Menschen, die sexualisierte Gewalt ausüben, nicht für ihr Handeln verantwortlich machen (z.B. durch Einleitung eines Strafverfahrens) ; soziale Ungleichheit und Armut, da marginalisierte Gruppen in prekären Lebenssituationen eher von sexualisierter Gewalt betroffen sind; kulturelle Normen und Werte, die zur Normalisierung sexualisierter Gewalt beitragen oder Medien, die zur Verbreitung stereotyper Sichtweisen beitragen, die sexualisierte Gewalt verharmlosen.

Wenn kulturelle und religiöse Vorstellungen verbieten, sich kritisch mit der eigenen Familie auseinanderzusetzen, Interaktionsmuster zu hinterfragen, Probleme anzusprechen und außerhalb der Familie Hilfe zu suchen, steigt die Tendenz zur Geheimhaltung und Fortführung sexualisierter Gewalt.

Ungleiche Geschlechterverhältnisse

Insbesondere in feministischen Diskursen wird das Ungleichgewicht der Geschlechterverhältnisse kritisiert. Sexualisierte Gewalt wird überwiegend von Jungen und Männern gegenüber Mädchen und Frauen ausgeübt. Das trifft auch auf sexualisierte Gewalt durch Geschwister zu. Das sind keine Ausnahmefälle, sondern sexualisierte Gewalt ist ein alltäglicher Bestandteil im Leben von Mädchen und Frauen – ebenso wie andere Formen von Gewalt, die von Jungen/Männern ausgeübt werden. Das ist ein strukturelles Problem. Das Geschlechterungleichgewicht in patriarchalen Gesellschaften kann dazu führen, dass Männer über Frauen dominieren und sexualisierte Gewalt als Mittel zur Ausübung von Macht und Kontrolle einsetzen.
Wenn es in Kulturen und Religionen üblich ist, älteren männlichen Geschwistern Macht über jüngere weibliche Geschwister zu geben, erhöht sich auch das Risiko für Machtmissbrauch, in Form von sexualisierter Gewalt.

Pornographie

Viele Eltern scheuen davor zurück, ihre Kinder sexualpädagogisch zu begleiten und mit ihnen – ihrem Entwicklungsstand entsprechend – auch über Sexualität zu sprechen. Sexualität umfasst, wie es Bettina Schuhrke anschaulich umschreibt, mehrere Facetten: Körperliche Lust/Erregung, Geschlechtsidentität, Geschlechterrolle, Sexuelle Orientierung, Intimität/Privatheit, die wiederum miteinander verbunden sind. 42 Eltern haben Angst, ihre Kinder mit diesen Themen zu überfordern.

Bleiben die Fragen unbeantwortet und hören junge Menschen zudem viel aus der Gleichaltrigengruppe, dass sie unsicher werden lässt, wenden sie sich der Pornographie zu, die noch nie so leicht zugänglich war wie heute. Pornographie ist allerdings nicht der beste Weg für die sexuelle Bildung. Hier werden viele falsche und unrealistische Botschaften über Sexualität vermittelt (beispielsweise, dass Menschen immer und jederzeit Lust auf Sex haben). Gewalt wird oft glorifiziert. Brad Watts, der mit sexualisiert-übergriffigen jungen Menschen in den USA arbeitet, warnt davor, dass ein intensiver Konsum von Pornographie für viele junge Menschen zur Eintrittskarte in die Welt sexualisierter Gewalt wird. 43 Er betont, dass Pornographiekonsum alleine nicht dazu führt, dass sexualisierte Gewalt ausgeübt wird, aber dadurch wird die Hemmschwelle in Bezug auf sexualisierte Aggressionen deutlich gesenkt. Die Einstellung zu sexualisierter Gewalt verändert sich. Viele Jugendliche, die sexualisierte Gewalt ausüben, berichten von einer Abhängigkeit zur Pornographie. Eine solche Abhängigkeit manifestiert sich im Gehirn der jungen Menschen. Brad Watts berichtet von jungen Menschen, die nur noch über „Vergewaltigungs-Pornographie“, begleitet von Masturbation, sexuelle Erregung verspüren und immer härtere Inhalte suchen. Wie bei einer Sucht üblich, reichen die „normalen Pornos“ nicht mehr aus, sondern das Gehirn schüttet nur noch Dopamin aus, wenn extremere, erregendere Inhalte konsumiert werden.

Auch in meiner empirischen Studie mit 13 Jugendlichen, die ihre Geschwister durch sexuelles Verhalten geschädigt haben, konsumierte die Mehrheit Pornografie.

Dazu zwei Zitate:

„(…) beim Freund haben wir uns Pornos angeguckt, und das hat mich dann auch auf die Idee gebracht.“

„Und irgendwann hatte ich dann den neuen Freund gehabt, und der Vater hatte so ne CD mit Kinderpornografie. Die hab ich mir dann geklaut gehabt und dann kam ich auf solche Gedanken eben, ja, mit Kindern Sex zu haben. Ich habe mir die Pornos jeden Abend und zwischendurch oft angeguckt und mir darauf einen runtergeholt.“ Dieser Junge erzählte später, die Filme als konkrete Anleitung für die Ausübung der sexualisierten Gewalt genutzt zu haben.

Auch in einer aktuellen Studie mit fast 2000 australischen Männern wurde die Nutzung von Pornographie, insbesondere gewalttätiger Pornographie, als wesentlicher Risikofaktor für sexualisierte Gewalt hervorgehoben. 44

Vor dem Hintergrund der dargestellten Risikofaktoren, wird eindrücklich deutlich, dass die Bekämpfung sexualisierter Gewalt eine ganzheitliche, mehrdimensionale Herangehensweise braucht. Die Prävention sexualisierter Gewalt durch Geschwister muss an diesen Risikofaktoren auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen.

37 Thomsen, L., Ogilvie, J. & Rynne, J. (2023) Adverse childhood experiences and psychosocial functioning problems for youths who sexually harm siblings, Journal of Sexual Aggression, 29:3, 374-390, DOI: 10.1080/13552600.2023.2223234
38 Thomsen, L., Ogilvie, J. & Rynne, J. (2023) Adverse childhood experiences and psychosocial functioning problems for youths who sexually harm siblings, Journal of Sexual Aggression, 29:3, 374-390, DOI: 10.1080/13552600.2023.2223234
39 Kieran McCartan, Sophie King-Hill & Abby Gilsenan (2023) Sibling sexual abuse: a form of family dysfunction as opposed to individualised behaviour, Journal of Sexual Aggression, 29:3, 427-439, DOI: 10.1080/13552600.2023.2258928
40 Fröhlich-Gildhoff, K. (2020). Das Bio-Psycho-Soziale Modell als übergreifender Ansatz der Erklärung von herausforderndem Verhalten und psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen. In N. Beck (Hrsg.). Therapeutische Heimerziehung: Grundlagen, Rahmenbedingungen, Methoden (S. 131–151). Lambertus
41 Lisa Thomsen, James Ogilvie & John Rynne (2023) Adverse childhood experiences and psychosocial functioning problems for youths who sexually harm siblings,
Journal of Sexual Aggression, 29:3, 374-390, DOI: 10.1080/13552600.2023.2223234
42 Schuhrke, B. (2015). Kindliche Ausdrucksformen von Sexualität. Zu, aktuellen Wissensstand und dessen Relevanz für Eltern und Institutionen bei der Sexualaufklärung. In: ZSexualforsch, 28, 161-170.
43 Watts, B. (2020). Sibling sexual abuse. A guide for confronting America`s silent epidemic. ‎ Independently published. S. 24
44 Salter, M. et al. (2023). Identifying and understanding child sexual offending behaviours and attitudes among Australian men. https://www.humanrights.unsw.edu.au/research/current-research/understanding-online-child-exploitation-practices